Fotos: Ivo Faber
und Yann Annicchiarico
http://kunst-im-tunnel.de/publikationen/KIT_Diener_zweier_Herren/KIT-DienerZweierHerren.html
https://www.kunst-im-tunnel.de/en/exhibition/yann-annicchiarico-diener-zweier-herren/
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Der Weg in mögliche Welten – eingehaucht durch ein Traumgespinst
Jenny Lauro-Mariani
2020
Als Yann mich bat, einen Text über seine Installation zu schreiben, hatte ich zunächst vor, ganz konkret über die Erfahrung zu berichten, zu der sie uns einlädt. In diesem Text wäre es vor allem um die Durchlässigkeit zwischen Architektur, Bildhauerei und Wahrnehmung in manchen seiner Werke gegangen. Und ich hätte hierzu wahrscheinlich mit stichhaltigen Argumenten nachgewiesen, was für eine starke Affinität hier zur Theaterwelt allgemein, sowie insbesondere zu den überraschenden, vielgestaltigen Erfahrungen von „Darstellung“ besteht.
Als ich mich dann aber an den Schreibtisch setzte, um den Text zu verfassen, war ich aus einem seltsamen Traum erwacht. Erinnerlich war mir davon nur noch das Bild einer durch die Räume des Palasts auf einer Theaterbühne fliegende Eule, die einem Sturm auswich. Sie lachte, und ihr Lachen hallte durch die unendliche Weite der Zeit. Nachdem sich das Traumgespinst aufgelöst hatte und es Abend geworden war, haftete mir nur noch dieses mysteriöse Lachen im Gedächtnis. Ein Traumgespinst war erschienen, um mir einen völlig anderen Text einzuhauchen.
Solche Gespinste haben ja allgemein etwas Beunruhigendes. Um sich vom eigenen Misstrauen zu befreien, muss man vor allem jeglichem Glauben abschwören und aufhören, sie als überdeterminierte Phänomene wahrzunehmen. Vorausgesetzt, sie sind erschienen, um sich von diesem a priori zu entledigen, scheint es, dass ihr Weg in unseren Alltag so erklärt werden kann: sie sind zwar körperlos, doch deshalb nicht weniger real. Dieses Paradoxon lädt uns, glaube ich, ein, zu akzeptieren, dass wir durch sie Erfahrungen machen, die uns angesichts der Möglichkeit des Erfahrens anderer Welten ziemlich in Aufregung versetzen.
In einem alten Buch fand ich dann die Lösung des Rätsels, das mein Traum mir aufgab, sowie der Erwägungen, die er ausgelöst hatte:
„Hier sehen Sie den Palast des Schicksals, dessen Bewachung mir obliegt. Hier gibt es Darstellungen – nicht nur dessen, was passiert, sondern all dessen, was möglich ist. Vor Anbeginn der Welt, wie wir sie kennen, hatte Jupiter sie sich alle angesehen. Dann ließ er die Möglichkeiten auf sich wirken und wählte die beste davon aus. Manchmal besucht er diese Orte, um sich zu erinnern und seine Entscheidung zu erneuern, [...] dadurch kann man auch herausfinden, was passieren würde, wenn diese oder jene Möglichkeit existierte.“ Diese von Athene ausgesprochene Aufforderung Jupiters aus Leibniz‘ Essais sur la Théodicée war die erste Schwelle, die ich überschreiten musste, um mich der Erfahrung zu nähern, die ich gemacht hatte. Der Text legte nämlich nahe, dass das Eintreten in einen Raum dieses Palastes das Mittel sein könnte, um ein ganzes Leben „wie in einem Blick, wie ein Theaterstück wahrzunehmen“. Eintreten, Schwellen überschreiten, Wahrnehmen. Einen Schritt nach vorne tun, dann wieder zurück, einen Weg Revue passieren lassen – es gab so vieles, das mich einlud, mein Abenteuer jenseits eines gleichzeitigen Verständnisses dessen anzusiedeln, was es ausgelöst hatte. Zugleich versetzte es mich in eine seltsam physische Dimension, ähnlich derer, die wir manchmal erfahren, wenn wir ein Kunstwerk und seine phantomgleichen Gäste vor uns haben. Diese aus einem Objekt, Ort, Raum geradezu herausschießenden Gespinste geben uns oft Gelegenheit, die Regeln des Gewöhnlichen zu überdenken und hinterfragen jeden vorgegebenen Rahmen. Erfahrungen, die – wenn man bedenkt, dass ihr bloßes Potenzial genügt, um sie real zu machen – eine überraschende Wirkung auf uns entfalten, und zwar aus der bloßen Tatsache heraus, dass sie aus verschiedenen Formen entstehen. Die Hydra Athena-Leibniz ließ mich dem Sinn meines Traumes ein wenig näher kommen und öffnete mir so die Augen für ein essenzielles Prinzip. In Jupiters Palast bzw. unserer abgeschotteten Welt und in der einer Ausstellung ähneln wir oftmals Blinden, die, in der Hoffnung, sehen zu lernen, so manche Gewissheit hinter sich lassen müssten.
Doch ebenso wie mein Traum musste auch Jupiters Palast nach und nach wieder im Nebel entschwinden. Heute ist es schier unmöglich, zu glauben, die beste aller Welten könne wirklich existieren. Vielmehr dürfte die heutige Welt eher der ähneln, die zu erobern sich ein Mann namens John, „der Wilde“, aufgemacht hatte. Damit ich dem Lachen eines Greifvogels mit kugelrunden Augen einen Schritt näher kommen konnte, wurde eine Hydra durch einen Wilden ersetzt.
Genau wie Jupiter es in seiner Aufforderung getan hatte, träumte auch John davon, Möglichkeiten in Welten zu verarbeiten. Ob ein Wunsch letztlich in Erfüllung geht oder nicht, er ist dadurch nicht weniger real. Und so beschloss er eines Tages, sich zu einer ungekannten Erfahrung aufzumachen. Sein Ziel: ein Labyrinth. Nach mehreren fruchtlosen Versuchen gelang es ihm, sich den Weg hindurch zu bahnen. Auf der anderen Seite fand er etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, weil er nicht benennen konnte, was er sah. Schwere Schatten legten sich ohnmächtig über einen unsicheren Raum. Im Bestreben, sie zu erhaschen und vom Wunsch beseelt, dass sie Gestalt annähmen, ließ er sich schließlich fangen. Erschrocken vom eigenen Schatten, der ihm fremd geworden war, tritt John die Flucht nach hinten an und rettet sich schließlich auf eine Insel. Inmitten eines tosenden Sturms in einem Leuchtturm verschanzt, rettet er die eigene Haut mithilfe einer Träne. Diese Träne ist eine andere Figur namens Prospero. Dieser hatte sie vergossen, als der Wilde in einen Traum fiel. In diesem seltsamen Traum schlenderten Besucher durch das Londoner Globe Theatre. Im schwarzen Holz des Lichthofs hallten die Worte wider: „Seid gutes Muts! Das Fest ist jetzt zu Ende; unsre Spieler, wie ich Euch sagte, waren Geister, und sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft. Wie dieses Scheines lockrer Bau, so werden die wolkenhohen Türme, die Paläste, die hehren Tempel, selbst der große Ball, ja, was daran nur Teil hat, untergehn. Und, wie dies leere Schaugepräng‘ erblaßt, spurlos verschwinden. Wir sind solcher Zeug wie der zu Träumen. Und dies kleine Leben umfasst ein Schlaf.“ Ich legte das Buch beiseite und fragte mich, wie ich aus alledem einen Text für eine Ausstellung schreiben konnte. Da hörte ich das Flügelgeräusch einer Eule, die durch das offene Fenster hereingeflogen war. Lachend flüsterte sie mir ins Ohr: „Quod fere totus mundus exerceat histrionem“. Was sich frei übersetzen ließe mit „Die Welt ist eben ein Spiel-Raum“. Dem würde ich noch hinzufügen: „weil jede Welt – potenziell oder real – ein Spiel-Raum sein könnte“. Und genau dies erfährt man meiner Meinung nach im Angesicht eines Werkes von Yann Annicchiarico.
Entering possible worlds – inspired by a dream
Jenny Lauro-Mariani
When Yann asked me to write a text about his installation, I at first intended to describe very specifically the kind of experience it invites us to. The main focus would have been the permeability between architecture, sculpture and perception in some of his works. For this occasion, with solid arguments I would probably have documented the strong affinity with the theatre world in general, and particularly with the surprising, multifaceted experiences contained in the word "representation".
But when I sat down at my desk to actually write the text, I had woken from a strange dream. All I could remember was the image of an owl flying through the rooms of a palace on a theatre stage. In its flight, the bird evaded a storm. It laughed, and its laugh echoed through the walls of time. After the web of dreams had dissolved and evening had drawn in, still this mysterious laughing was stuck firmly in my mind. A web of dreams had appeared to bring an entirely different text to life for me.
Such webs, of course, have something generally unsettling about them. To free yourself of your own mistrust, you must in particular renounce and cease all belief to perceive them as overdetermined phenomena. Provided they have appeared to free themselves of this “a priori”, it would seem that their way into our everyday is explained like this: they may well be bodiless, but they are no less real. This paradox invites us, I think, to accept that we make experiences with it, which, in view of the possibility of experiencing other worlds, rather exacerbate us. In an old book I then found the solution to the puzzle my dream had set me, and the deliberations it had triggered:
“Here you see the palace of destiny, which I am behoving to guard. There are portrayals here – not just of what has happened, but rather of all which is possible. From the beginning of the world, as we know it, Jupiter has watched over all. Then he let the possibilities work on him and chose the best of them. Sometimes he visits these places to remind himself and to renew his decision, [...] from which you can also find out what would happen if this or another possibility existed.”
This request of Jupiter’s from Leibniz’s Essais sur la Théodicée, expressed by Athena, was the first threshold I had to cross to approach the experience I had made. The text actually suggested that entering a room of this palace could be the means to, “perceive an entire life in a glance as a stage play”. Enter, cross thresholds, perceive. Take one step forward, then back again, rethink a route – there was so much that invited me to settle my adventure beyond a simultaneous understanding of that which it had triggered. At the same time it placed me in a strange physical dimension, similar to that which we sometimes experience when we have a work of art and its phantom-like guests before us. These webs virtually appearing from an object, place, space, often give us the opportunity to rethink the rules of the usual and scrutinise every given framework. Experiences that, when you think that their simple potential is enough to make them real, unfurl a surprising effect on us, and that from the mere fact that they emerge from different forms.
The Athena-Leibniz Hydra allowed me to approach the meaning of my dream a little more and opened my eyes to an essential principle. In Jupiter’s palace or our sealed-off world and in that of an exhibition we are often like the blind, who, in the hope of learning to see, had to leave some certainty behind them.
And yet just as my dream had, Jupiter’s palace also had to disappear gradually in the fog. Today it is just about impossible to believe the best of all worlds can truly exist. Today’s world would be far more like the one a man named John “the Wild One” had opened up to conquer himself. A Hydra was replaced by a Wild One so I could get one step closer to the laughing of a raptor with roly-poly eyes.
Just like Jupiter did it in his request, John also dreamed of working possibilities into worlds. Whether a wish is ultimately fulfilled or not, he is consequently no less real. And so he decided one day to make his way off to an unknown experience. His goal – a labyrinth. Following several fruitless attempts he succeeded in blazing the way right through. On the other side he found something that froze the blood in his veins, because he could not name what he saw. Heavy shadows fell impotently over an uncertain space. Endeavouring to snatch them and inspired by the desire to see them take shape, he ultimately let himself be caught. Frightened by his own shadow, grown alien to him, John fled backwards and finally rescued himself on an island. Entrenched in a lighthouse in the middle of a thunderous storm, he saves his own skin with the help of a teardrop. This teardrop is another character called Prospero. He had shed it when the Wild One fell in a dream. In this strange dream visitors strolled through London’s Globe Theatre. In the blackish wood of the atrium echoed the words: “Be cheerful, sir. Our revels now are ended. These our actors, as I foretold you, were all spirits and are melted into air, into thin air: And, like the baseless fabric of this vision. The cloud-capp'd towers, the gorgeous palaces. The solemn temples, the great globe itself, ye all which it inherit, shall dissolve. And, like this insubstantial pageant faded, leave not a rack behind. We are such stuff. As dreams are made on, and our little life is rounded with a sleep.”
I put the book down and asked myself how I could write a text for an installation from all this. Then I heard the sound of an owl’s wings as it flew through the open window. Laughing it whispered in my ear: “Quod fere totus mundus exerceat histrionem.” Or to translate freely, “the world is just a gaming space”. But I would add: “... because every world, potential or real, can be one.” And precisely this I believe we experience standing before a work by Yann Annicchiarico.
Schauen, Sehen und Umgehen
Marina Sammeck
Eigentlich gehen wir oft blind durch die Welt. Das Sehen und die Erfassung unserer Umgebung sind alltägliche Funktionen unseres Bewusstseins, derer wir uns oft erstaunlich unbewusst sind. Doch die menschliche Wahrnehmung ist ein vielschichtiges Phänomen, das sich verlagern, herausfordern und hinterfragen lässt. So begreift es der luxemburgische Künstler Yann Annicchiarico, der ein eng auf die Architektur des KIT reagierendes Ensemble von Arbeiten geschaffen hat, welches das Gehen durch die sonst als gegeben betrachteten räumlichen Strukturen des Ausstellungsortes KIT in ein Wandeln wandelt. In der Begegnung mit den installative, skulpturale und filmische Mittel einsetzenden Stationen des Gesamtensembles ,,Diener zweier Herren“ will der Künstler den Betrachter dazu anstoßen, während der Durchquerung sich der Funktion des Sehens von Neuem bewusst zu werden und die Rolle des Blickes für die Orientierung im Raum zu erfahren. Durch die Umkehrung von Größenordnungen und den Verhältnissen zwischen Innen und Außen sowie der Überquerung der Grenzen zwischen den Spezies, hebt der Annicchiarico die Gewohnheiten der Wahrnehmung auf und öffnet so dem Betrachter von Innen heraus die Augen.
Konkret auf das Phänomen des Sehens referierend agiert eine überdimensionale 3D Brille, die eingelassen ist in den sich nach hinten verengenden Bereich des KIT am Eingangsbereich des Ausstellungsraumes, wie eine Einladung zu einem Einlassen auf den Sehprozess während der Begehung der Ausstellung. Die Hohlräume hinter den jeweils blauen und roten Gläsern der Brille dienen als Terrarium für Pflanzen, die dort durch künstliche UV-Bestrahlung die idealen Lichtbedingungen zum Wachstum vorfinden. Eine anziehende Atmosphäre eines surrealen Aquariums geht von der Brille aus, die dem Gedanken des Künstlers nach wie eine Anekdote über den menschlichen Sehprozess fungiert, aber dabei auch unsere physiologischen Grenzen des Umgangs mit Licht gegenüber anderen Spezies aufzeigt. Nur aus getrennt pro Auge im Gehirn ankommenden Bildern kann das Gehirn dreidimensionale Bilder erzeugen, eine Tatsache, die sich die Technik der 3D Brille anhand der farblicher Filter zu nutze macht, die eineTrennung in der Lichtaufnahme durch das Auge erzeugen. Ein billiger Trick, wenn man daran denkt, dass die Art und Weise, wie Pflanzen in der Lage sind, Licht in Zucker umzuwandeln, für uns weder sichtbar noch wahrnehmbar ist.
Diesen Ansatz, dass die Bewusstwerdung der eigenen Wahrnehmung immer auch eng verbunden ist mit dem Erspüren der eigenen Grenzen, führt Annicchiarico in einer weiteren Arbeit fort. Ähnlich wie die Brille artikuliert diese sich ebenfalls über die Dimensionen der Größenverhältnisse, des Lichtes und des Sehens, sowie der Grenzen zwischen den Spezies und der Grenzen der menschlichen Wahrnehmung. Konzept und Aufbau dieser an eine fragile Skulptur erinnernden Arbeit sind sehr poetisch. Direkt unter einem der Lichtschächte bildenden Fenster des KIT hat der Künstler ein kleiner dimensioniertes Glasmodell dieses Fensters platziert, in das er zuvor nachts in seinem Garten durch Beleuchtung Nachtfalter gelockt hat. Auf der schwarz verrußten Dachfläche dieses Kastens haben die Falter durch ihren Flügelschlag Spuren hinterlassen und so eine Art von Zeichen hinterlassen. Diese Flügelzeichen hat der Künstler wieder auf eine Folie übertragen und auf die Schachtfenster geklebt, die Nachts angestrahlt so die ,,Nachrichten“ der Nachtfalter im Stadtraum außerhalb des KIT verbreiten.
Nachtfalter sind eine faszinierende Spezies für Annicchiarico, da ihr Habitat, die Nacht und die Art und Weise, wie sie mit Licht umgehen, für die menschliche Wahrnehmung unzugänglich sind. Durch die Begegnung mit dem undechiffrierbarem Muster, welches sie angezogen von einer künstlichen Lichtquelle hinterließen, sensibilisiert der Künstler uns wieder für die Grenzen unserer Erfahrung, die mehr und mehr auf bestimmte Bedingungen und Gesetze festgelegt erscheint. Das Arbeiten mit Projektionsmethoden, der Übertragung von bestimmten Verhältnissen in andere Dimensionen oder Gegebenheiten, nimmt so einen zentralen Platz in seinem Werk ein. Dabei zeigt er, dass es nicht die Begrenzungen der Technik, sondern in erster Linie die Grenzen der menschlichen Fähigkeit zur Erfassung oder Verarbeitung der transformierten Dinge ist, welche die durch ihn entwickelten Projektionsmethoden zur Unmöglichkeit führen.
Diese Verwirrungen, die durch an sich hinterschaubare Techniken der Projektion entstehen, macht sich Annicchiarico in einer weiteren installativen Arbeit zu nutze, die dem Betrachter in zwei Lichtprojektionen in Fussbodenhöhe an die Wand gestrahlt während des Durchqueren des zur großen Ausstellungshalle führenden Flurs begegnet. Was in scheinbar identischer Form zu sehen ist, erinnert an ein filmisches Experiment in schwarz-weiß: vom Dunkel eingerahmte, flimmernde weiße Rechtecke, die wie von einer unstabilen Kamera aus gefilmt ruckeln und teils von kaum sichtbaren Schatten in Sekundenbruchteilen unterbrochen werden. Was der Betrachter tatsächlich sieht, ist eine Kameraeinstellung aufgenommen aus einem Fenster eines architektonischen Modells des KIT, die der Künstler gedreht hat während er mit dem Auto und diesem Modell im Gepäck einen Tunnel durchquert hat. In der Arbeit sieht der Betrachter so eines der wesentlichen Bauelemente des umgebenden Raumes, aber ausserhalb des KIT in ein Umfeld transferiert, welches das KIT als zwischen befahrenen Tunneln liegender Hohlraum wesentlich bestimmt. In dieser Station findet eine Aufschichtung von Projektionen statt, inszenierter und realer, die sich der Betrachter aber unbewusst ist, so lange er sich nicht darauf einlässt und mit den Raumverhältnissen auseinandersetzt.
Zu dieser Beschäftigung mit der Frage ,,Wo sind wir eigentlich“ will Annicchiarico einen noch in weiteren Arbeiten anstoßen. Am prägnantesten und unausweichlichsten begegnet diese Fragestellung dem Besucher in dem Hauptwerk der Ausstellung, bezeichnet als ,,Gestell“, welches anhand seiner gewaltigen Labyrinth-artigen, das Schreiten und Sehen in völlig neue Richtungen lenkenden Dimensionen, wie keine andere Arbeit in die Raumerfahrung eingreift. Die Module aus schwarzem MDF, ein künstlicher Pressbaustoff mit Holzbestandteil, bestehen aus genormten Bauteilen und erinnern durch offene Raster teils an Regale. An vielen Stellen sind die raumteilenden Strukturen transparent, bilden Fenster oder Türen und ahmen anhand montierter Deckplatten Treppenverläufe nach. Durch die regelmäßige Wiederholung dieser einzelnen Bestandteile und deren Transparenz bilden die Module Räume, die von vielen Seiten her einsehbar sind und nie ganz geschlossen.
So ist die Erfahrung der Durchquerung der Installation eigentlich nicht die eines Labyrinthes, da jeder Raum wieder aufgeht in den Ausstellungsraum, sei es perspektivisch oder durch die Struktur des Aufbaus. Und obwohl man sich durch diese Transparenz nicht verirren kann, es keine richtigen oder falschen Wege gibt, beunruhigt doch gerade dieses Gefühl der Offenheit, dass die Räume nie etwa abgeschlossenes Ganzes bilden, überhaupt nicht klar ist, ob die Module mit ihren anhand von Normmaßen Fenster und Türen vorgaukelnden Öffnungen überhaupt als ,,Wände“ Raumbegrenzungen darstellen. Dieses Gefühl der Unsicherheit in der Verortung innerhalb der ,,Räume“ der Installation ist von Annicchiarico intendiert. Denn dem Künstler geht es um die Erschaffung ,,potentieller Räume“, Räume, die mehr von der individuellen Wahrnehmung des Betrachters abhängen als von den tatsächlichen Begebenheiten des Ortes. Indem Annicchiarico den Besucher durch die Erfahrung der Installation an die Stelle bringt, an der alles unstabil erscheint, macht er darauf aufmerksam, dass es in erster Linie die unhinterfragten Gesetzte unserer Wahrnehmung sind, die Räumen ihre Qualität als Ort verleihen und ein Gefühl von Stabilität vermitteln.
Die enge Verkettung zwischen physischer Struktur und den darauf ,,blind“ reagierenden Wahrnehmungsgewohnheiten stellt der Künstler in einer weiteren, der Folge des Parcours nach finalen Arbeit auf die Probe. Mit einer in zwei Komponenten, einer akustischen und einer visuellen, aufgeteilten Filmarbeit, reagiert Annicchiarico wieder auf die speziellen Verhältnisse dieses Raumes, der durch eine Trennwand und den dahinter spitz zulaufenden Wandverlauf eine Art geschützten Bereich bietet. Mit dem Lauten Surren eines 16mm-Projektors in der einen Ecke des Raumes und einer davon völlig unabhängigen Bildprojektion einer Filmaufnahme eines von Nachtfaltern und anderen Insekten bevölkerten, beleuchteten weißen Kissenstoffes, kann der Betrachter zunächst nicht umhin, beide Teile als Eines zu interpretieren. Durch einen die Raumecke ausleuchtenden Scheinwerfer wird der Betrachter selbst wie Motten ins Licht zu den ratternden Filmspulen gelockt um festzustellen, dass es allein die Vertrautheit des Geräusches in Zusammenhang mit dem leuchtenden weißen Kissenstoff an eine projizierte Leinwand erinnernde Filmarbeit ist, die die Wahrnehmung hier in die Irre führt.
So wie der Künstler erzählt, dass der Kissenstoff und die sich darauf sammelnden Nachtinsekten für ihn die Schwelle zu einer Welt symbolisieren, die außerhalb unser Wahrnehmung liegt, scheint es wenig plausibel, dass es Annicchiarico in seiner Arbeit vordergründig darum geht, den Betrachter zu täuschen oder auszutricksen. Wie der Titel ,,Diener zweier Herren“ signalisiert, angelehnt an das gleichnamige Theaterstück von Carlo Goldoni (1707-1793), in dem der Protagonist sich in ein Spiel verstrickt, innerhalb dessen er in der Rolle eines Harlekin sich ohne das gegenseitige Wissen dieser als Lakai zweier Herrschaften anheuert, stößt der Ansatz des Künstlers vor in diese Gegensätzlichkeiten der Wahrnehmung, deren Reflektion dadurch erschwert wird, dass sie sich in unvereinbaren Kategorien äußern, wie Distanz und Nähe, Innen und Außen, Licht und Dunkel. Annicchiarico gelingt es in seinem Werk durch den Anstoß einen Prozess des Bewusstwerdung diese Dualismen zu überbrücken und zu einer neuen Art von Ganzheitlichkeit zu gelangen. Führt der Künstler den Betrachter hinters Licht, dann in Form eines Perspektivenwechsels. Er begleitet den Betrachter an die wohl nur in der Kunst erreichbaren Stelle, von der man aus in der Lage ist, das Sehen zu Betrachten.
http://rhineart.com/kit-yann-annicchiarico-diener-zweier-herren/
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Diener zweier Herren erkundet verschiedene Wege der Aufhebung der menschlichen Wahrnehmung als solche. Diese Aufhebungen entstehen über Umwege durch Vakuen welche der Wahrnehmung keinen Halt bieten. Vakuum ist in der technischen Praxis ein Raum mit weitgehender Abwesenheit von Materie – im Vakuum gibt es keine festen Objekte oder Flüssigkeit, extrem wenig Gas und damit auch einen extrem niedrigen Gasdruck. Ein solcher Vakuum wirkt jedoch auf benachbarte Räume als Kraft. Die Vakuen in Diener zweier Herren wirken nicht in unserer Vorstellung, sondern auf unsere Wahrnehmung.
Einer der Wege der Aufhebung stellt dem gegebenen Raum im gegebenen Raum sein Potential als solches entgegen. Diese Verschachtelung von gegebenem und potentialem Raum stellt den Betrachter vor eine Leere. Diese wirkt als vorgehaltener Eulenspiegel welcher uns unsere Wahrnehmung als zu betrachtendes Objekt zu erkunden gibt. Ein anderer solcher Weg stellt den Betrachter vor die Unmöglichkeit der Einfühlung in das Welterlebnis eines Nachtfalters. Ein Paradox welches wiederrum die Wahrnehmung mit sich selber stehen lässt.
So könnte man sagen daß unser Arlecchino die Position eines stillen Beobachters einnimmt der Erkenntnis ausschliesslich über Umwege und durch Unbegreiflichkeit erzeugt.
(Y.A.)
Der folgende Text ist ein Dialog zwischen den Künstlern Yann Annicchiarico und Bernhard Rüdiger. Über etwa zwei Monate hinweg geführt, markiert er die Vorbereitung von „Diener zweier Herren“, die mit dem Erstarren der Welt am Freitag, 13. März 2020, begann. >link zum Dialog